Heinrich von Kleist - Michael Kohlhaas, â–ºEbooki DEUTSCH

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Paul Michael Lützeler
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas
Reclam
Heinrich von Kleist:
Michael Kohlhaas
Von Paul Michael Lützeler
So können wir Heinrich Kleist [. . .]
einen juridischen Dichter nennen.
Fouqué
, 1816
Kleists
Kohlhaas
ist aktuell. Gisela Elsner fühlt sich provoziert durch »das Frohlocken
angesichts des Richtblocks« am Schluss der Erzählung, Yaak Karsunke (als Dramatiker)
schildert des »Colhaas’ letzte Nacht«, Heiner Müller lässt in einem »Greuelmärchen«
Kleist den Michael Kohlhaas spielen, Volker Schlöndorff verfilmt den Stoff, Elisabeth
Plessen schreibt »aus Faszination und aus Ärger«
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über den Kleist’schen Fiktionshelden
ihren Geschichtsroman, in welchem es um das Leben des Hans Kohlhase der Chroniken
geht, dem gleichzeitig Kurt Neheimer einen ausführlichen historischen Bericht widmet,
Otto F. Best fällt als Literatur-Leporello aus der Rolle, um
Michael Kohlhaas
weiterzudichten, Stefan Schütz setzt die Prosa fürs Theater ins Dramatische um
(ähnlich verfahren der Regisseur Adolf Dresen aus Berlin sowie der englische Autor
James Saunders), und in dem amerikanischen Roman
Ragtime
versetzt E. L. Doctorow
den Rosshändler in das New York am Anfang unseres Jahrhunderts, wo er als
schwarzer Musiker mit dem Namen Coalhouse ähnlichen Schikanen ausgesetzt ist wie
sein brandenburgischer Ahn.
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Mit »Faszination und Ärger« lässt sich auch die Reaktion
der akademischen Welt während der siebziger Jahre auf die Kohlhaas-Erzählung
umschreiben: In ihren Studien geht es vor allem um den Kleist’schen
Gerechtigkeitsbegriff,
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von dem etwa der Südafrikaner Peter Horn wissen will, was er
© 1988, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Paul Michael Lützeler
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas
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»uns heute eigentlich noch angeht«. Die so zwiespältige Einstellung zu wie intensive
Auseinandersetzung mit Kleists
Kohlhaas
während der letzten Dekade ist zu verstehen
auf dem Hintergrund der weltweiten kulturellen und politischen Unruhe. Gisela Elsner,
Volker Schlöndorff, Yaak Karsunke und Elisabeth Plessen verarbeiten Erfahrungen der
Studentenbewegung; Stefan Schütz und Adolf Dresen reagieren indirekt auf das
Phänomen des Dissidententums in der DDR;
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E. L. Doctorows Roman ist ohne das Civil
Rights Movement in den USA und Peter Horns Studie ohne die
Menschenrechtskampagne in Südafrika nicht zu verstehen. In jedem Falle identifiziert
man sich so weit mit dem Kleist’schen Kohlhaas, als er den Widerstand gegen staatliche
Rechtsverletzung verkörpert, und ist gleichzeitig provoziert von dem, was Elisabeth
Plessen seine »Staatsfrömmelei«
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nennt.
Faszination und Ärger sind in der Rezeptionsgeschichte der Kleist’schen Erzählung
ganz allgemein die vorherrschenden Reaktionsweisen. Je nach politischem Standpunkt,
ästhetischer Empfänglichkeit, historischem Verständnis, psychologischem
Einfühlungsvermögen, literarischer Schulung und juristischer Urteilskraft des Lesenden
bzw. je nach literaturgeschichtlich-kultureller und gesamtgesellschaftlich-politischer
Konstellation fallen die Wertungen unterschiedlich aus. Konstant bleiben lediglich die
außerordentlich große Verbreitung der Erzählung und ihre allgemeine Etikettierung als
»Meisterwerk«. Abgesehen von den etwa siebzig deutschsprachigen Kleist-
Werkausgaben, die seit Ludwig Tiecks erster Gesamtedition von 1826 erschienen sind
und in denen der
Michael Kohlhaas
mit veröffentlicht ist, wurden seit der Erstauflage
von 1810 etwa hundertzwanzig deutschsprachige Einzelausgaben der Erzählung
publiziert, wobei viele davon mehrere Auflagen erlebten und erleben.
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Kaum eine
Prosa-Reihe deutscher Belletristik-Verlage wollte das gewinnversprechende Büchlein
missen. Der
Kohlhaas
wurde eingepasst in all jene Serien, deren mehr hohl- als
wohlklingende Bezeichnungen hundertfünfzig Jahre deutscher Verleger- und
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Lektorenphantasie dokumentieren. Die Verkaufskategorien waren in erster Linie das
Jugend- und Schulbuch (»Lebensspiegel für die reifere Jugend«, 1840; »Lebensbücher
der Jugend«, 1924; »Klassikerbibliothek für die deutsche Jugend«, 1954; »Juventus-
Bücherei: Drachenbücher«, 1956; »Sammlung deutscher Schulausgaben«, 1895;
»Deutsche Schulausgaben«, 1926; »Schulbücherei«, 1948). Danach folgte die Sparte
»Meisterwerk« für ein Bildungsbürgertum, dem die Lektüre zur Erbauung und
Innerlichkeitspflege bzw. als kulinarischer Leckerbissen angeboten wurde
(»Hausbücherei«, 1903; »Auserlesene Werke der Literatur«, 1910; »Meisterwerke der
Weltliteratur«, 1916; »Die Bücher der deutschen Meister«, 1921; »Hausschatz-Buch«,
1922; »Der lichte Steg«, 1923; »Aus deutschen Gärten«, 1926; »Trösteinsamkeit«,
1940; »Meisterwerke deutscher Prosa«, 1946; »Spiegel der Muse«, 1964). Auch in
imperiale und militante Reihen musste der
Kohlhaas
sich einberufen lassen
(»Germanische Bibliothek«, 1926; »Weltgeist-Bücher«, 1927; »Soldatenbücherei«,
1942; »Kleine Feldpost-Reihe«, 1943), und schließlich findet man den Kohlhaas-Dichter
wieder als Kollegen des Conan Doyle und der Agatha Christie (»Lutz’ Kriminal- und
Detektivromane«, 1921 – eine Ausgabe übrigens, aus der die spannungshemmenden
Fremdwörter entfernt wurden; »Kriminalnovellen deutscher Dichter«, 1975). Ein
Indikator der Ausstrahlungskraft der Kleist’schen Erzählung bzw. der Attraktivität ihres
Stoffes ist auch die Tatsache, dass
Michael Kohlhaas
während der letzten
hundertfünfzig Jahre häufig dramatisiert wurde. Insgesamt liegen achtzehn Kohlhaas-
Stücke, frei nach Kleist, vor;
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Arnolt Bronnen bearbeitete die Geschichte 1929 für den
Funk,
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und Paul von Klenau
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regte sie zur Komposition einer Oper an. Das – nicht nur
europäische – Ausland fand kein geringeres Interesse an der Erzählung. Sie ist in etwa
dreißig Sprachen übertragen worden;
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allein in Frankreich existiert ein Dutzend
verschiedener Ãœbersetzungen. Der Weltrang dieser Dichtung und ihre universelle
Geltung wird denn auch allgemein anerkannt. Sieht man von Goethes missvergnügter
© 1988, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Kritik ab – der »große Geist des Widerspruchs« im
Kohlhaas
war dem Olympier nicht
ganz geheuer –, begegnet man bei Durchsicht der Kommentare meistens Lob und
Anerkennung. Thomas Mann strich die »gewaltige Prominenz dieser vielleicht stärksten
Erzählung deutscher Sprache« heraus, Kafka las sie immer wieder »mit wirklicher
Gottesfurcht«, Gundolf sah in ihr »Kleists größte und berühmteste Erzählung«, Wilhelm
Schäfer musste »an Beethoven denken, um ein Beispiel gleicher Wucht in der
seelischen Bewegung zu finden«. Fontane dagegen betonte, dass er diese
»bekannteste« seiner Geschichten nicht für Kleists »beste« halte. Wie übrigens auch
Kafka gefiel ihm die zweite Hälfte des Werkes nicht, das dort »zu etwas relativ
Unbedeutendem« herabsinke, ein Urteil, dem sich Julius Hart anschloss, der hier
»Kindisches und Abstruses« buntscheckig zusammengesetzt sah. Die germanistische
Fachwelt ist sich aber von Meyer-Benfey (»Krone der deutschen Novelle«) über Muschg
(»unschätzbares Dokument«) bis zu Fricke (»klassisches Prosastück«
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) in der hohen
Achtung vor dem Kunstwerk einig und betreibt die Kanonisierung für jede
Studentengeneration aufs Neue.
Bei der Inanspruchnahme des
Michael Kohlhaas
für die Propagierung der jeweils
zeitbedingten kulturpolitischen und gesellschaftlichen Interessen verfuhr man
keineswegs zimperlich. Ideologen des Wilhelminismus wie Treitschke und Hart
reklamierten die Erzählung, gleichsam ohne mit der Wimper zu zucken, für ihre
Anschauungen. Dem Nationalisten Treitschke nach zu urteilen, kann nur »der Deutsche
ganz die tragische Macht« dieser Geschichte empfinden, und Julius Hart entfiltert bei
seiner Interpretation dem Werk die Kernthese: »Alles Recht ist nur Kriegsrecht«. Für
Karl Wächter, der sein Kohlhaas-Buch während des Ersten Weltkriegs, als er »unter den
Fahnen« stand, verfasste, ist Kohlhaas »ein echt preußischer Held«. In diesem
»Sturmgesang des brandenburgischen Dichters« Kleist, der »gut preußisch bis auf die
Knochen« gewesen sei, ist nach Wächter der »Geist« enthalten, »den unsere Feinde nie
© 1988, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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begreifen, dessen eiserne Härte uns aber zu Lüttich und Tannenberg führte und in
unbeugsamer Entschlossenheit einer Welt von Feinden trotzen läßt, Monat um Monat
und Jahr um Jahr«. Ein Beispiel für die von ihm vertretene Blut-und-Boden-Ideologie
sieht zur Zeit der Weimarer Republik Friedrich Braig im
Kohlhaas.
Braig meint, dass aus
der Erzählung Kleists »glühende Sehnsucht« nach der »blut- und schicksalhaften
Einheit mit seinem Volke« spreche. Gleichzeitig feiert Wilhelm Herzog in der
Roten
Fahne
Kohlhaas als Vorläufer des proletarischen Revolutionärs. Wenige Jahre später
(1937) hinwiederum vergleicht der Franzose Jean Cassou ihn mit Hitler. Zahlreich sind
die Stellen, an denen während des »Dritten Reiches« – sei es in der
Zeitschrift für
Deutsche Bildung
oder in den
SS
-
Leitheften –
vom »herben, nordischen Geist« der
Erzählung und von Kohlhaas als Verkörperung »deutschen Rechtsgefühls« die Rede ist.
Ähnlich dubios sind nach dem Kriege Behauptungen, dass Kleist in seiner Geschichte
»an das Geheimnis der östlich-slawischen Seele gerührt« habe, »von der es heißt, daß
sie einen Dämon und einen Engel in sich vereine«. In den fünfziger Jahren erkennt
Günther Anders in dem Rosshändler den literarischen Vorfahren der weltlosen Helden
des Samuel Beckett, und in den sechziger Jahren schließlich entwirft Richard Matthias
Müller das Idealbild des Super-Republikaners Kohlhaas, eines »aufrechten Bürgers«
und »deutschen Märtyrers«, gleichsam eines märkischen Che Guevaras, dessen fiktive
Biographie er der rebellionswilligen Studentengeneration als Anleitung zum Handeln
empfiehlt.
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Freilich ist die Rezeptionshistorie zum
Kohlhaas
nicht nur ein Reflex deutscher
Ideologiegeschichte. Positivistische Quellenstudien, historische Erläuterungen,
psychologische Deutungen, theologische Erörterungen, juristische Analysen,
geistesgeschichtliche Versuche, rechtsphilosophische Traktate, staatspolitische Thesen,
motivgeschichtliche Untersuchungen, komparatistische Arbeiten, poetologische
Formstudien und schließlich das allzu häufig vorkommende bare Nacherzählen
© 1988, 2001 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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